Wir brauchen eine Sprache, die die Menschen verstehen!

Ich komme aus einer pietistisch geprägten Familie. Zu Hause gehörten die Morgenandacht und das Tischgebet zum täglichen Leben und wir gehörten zur landeskirchlichen Gemeinschaft. Wir nannten uns nicht nur Christen, sondern es wurde praktiziert. Diese familiäre Glocke habe ich erst verlassen, als ich zur Schule kam.

Meine strenge christliche Prägung hat in mir eine Suche nach Klärung meines eigenen Glaubens angelegt. Ich wollte Theologie studieren und Pfarrerin werden.

Da ich kein Abitur hatte, waren es ein Professor für Theologie und ein Professor für Marxismus-Leninismus, die mir 1982 an der Karl-Marx-Universität Leipzig die Sonderreifeprüfung abgenommen haben. Ich dachte, wenn Du mit den Menschen sprechen und arbeiten willst, die in diesem Land leben, dann musst Du auch verstehen, womit sie sich in diesem Land auseinandersetzen müssen.

1983 habe ich geheiratet, vier Kinder bekommen und war eine Zeitlang mit ihnen zu Hause. 1997 war dann die besondere Situation, dass ich mit meinem Studium nicht mehr so ohne weiteres in die praktische Vorbereitung auf den Beruf einer Pfarrerin gehen konnte.

Im Sommer 2000 bekam ich einen Anruf von der kirchlichen Erwerbslosenhilfe, die Pfarrer Christian Führer an der Nikolaikirche in Leipzig gegründet hat. Er hatte schon 1990 erkannt, dass große soziale Probleme auf uns zu kommen, und dass die Kirche an der Stelle eigentlich die Aufgabe hat, die Menschen in diese neue Gesellschaft zu begleiten.

Seit November 2000 arbeite ich als sozialpsychologische Beraterin. Ich helfe den Menschen, wie man die Formulare ausfüllt, aber ich frage eben auch, wie geht es Ihnen? Ich bin keine Behörde, sondern ich schaffe einen Raum des Vertrauens, ich stelle Fragen und höre zu. Ich kann die strukturelle soziale Ungerechtigkeit nicht heilen, aber ich kann sehr gut hören, wo die Gefühle und Ängste herkommen. Ich bin ja auch ein fehlbarer Mensch. So hebt man in der Beratung die Lebensthemen hoch, die unter der aktuellen Situation liegen.

Ich könnte mir heute gar nicht mehr vorstellen, jeden Sonntag auf der Kanzel zu stehen und von dort herunter zu predigen. Viel lieber bin ich bei denen, die bedürftig sind und ich kann das auch sehr authentisch sein. Wir haben so einen Überbau aus Theologie, den braucht kein Mensch. Unsere Kirche sollte überlegen und die Studierenden darauf vorbereiten, wie wir eine Sprache finden, die die Menschen verstehen.

Quellenangaben: Portrait Dorothea Klein 2020 vor der Nikolaikirche in Leipzig (Quelle: Klein privat)

Lebenswegstation 1

Unbeirrt bleiben!

Ich erinnere noch, dass ich aus der Schule nach Hause kam und sehr stolz sagte: „Mama, ich bin heute Jungpionier geworden“. Mein Vater hat dann schon mal klar gesagt, dass der Staat das Christentum in der DDR nicht anerkennt, aber da ich eine gute Schülerin war, hatte ich darunter zunächst nicht zu leiden. Erst als dann nach der Thälmannpionierzeit die Frage aufkam, FDJ ja oder nein, war für mich ganz klar, das mache ich nicht. Die Erklärung meiner Eltern war, dass die FDJ eine Vorstufe der Partei ist und die Partei Christen, Gott und den christlichen Glauben ablehnt. Das war für mich ein Grund, nicht in diese Organisation zu gehen.

In der gleichen Zeit kam dann die Frage nach Jugendweihe und/oder Konfirmation auf. Zwei Jungs und noch ein Mädchen in der Klasse haben mit mir die „echte“ Konfirmation gemacht. In der 8. Klasse hatte das Konsequenzen, ich wurde nicht an die Erweiterte Oberschule delegiert und ich durfte auch nicht Kindergärtnerin werden. Ich bin dann nach Leipzig zur Ausbildung als Kinderdiakonin gegangen.

1967 Jungpionierin Klein in Ortmannsdorf/ in der Nähe von Zwickau in Sachsen Foto: damaliger Dorffotograf

1973 Konfirmation Klein am Palmsonntag Foto: damaliger Dorffotograf

Lebenswegstation 2

Ich bin kein Amt!

Pfarrer Christian Führer hat die kirchliche Erwerbsloseninitiative 1991 mit arbeitslos gewordenen Akademikern, die sich im Schnellverfahren angeeignet haben, wie man SGB III anwendet, in einer leer stehenden Wohnung an der Nikolaikirche in Leipzig gegründet und Jahre später in den Haushalt des Kirchenbezirks eingebracht.

Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht heute die Barmherzigkeit. Ich bin kein Amt, mir erzählen die Menschen die Wahrheit. Wenn ich hier einer alleinerziehenden Mutter helfe, berate ich indirekt die ganze Familie. Oder ich erkläre dem JobCenter im Widerspruchsverfahren, dass auch Migrantenkinder einen Laptop für das Homeschooling brauchen. Politisch kann ich gar nichts bewirken, aber ich kann in der Beratung den Behördenrassismus und die Ressentiments der Armen gegenüber noch Ärmeren aufgreifen und andere Impulse setzen.

Ich baue Aggressionen gegenüber Flüchtlingen ab und helfe jedem einzelnen, sich nach oben zu wehren, statt nach unten zu treten. Wir leisten hier eine Arbeit für den sozialen und politischen Frieden. Ich wünschte mir von der Kirche, dass sie viel klarer aufzeigt, was in diesem Land schiefläuft. Die Sicht auf die eigene Gesellschaft und die Armut hier bei uns, die kommen mir viel zu kurz!

September 2020 Beratungssituation in der kirchlichen Erwerbsloseninitiative Leipzig Foto: Klein privat